Die AWO ist aufgrund ihrer Werte, Geschichte und Funktion als Mitgliederverband, Interessenverband und Trägerin von Einrichtungen und Diensten etwas Besonderes. Für die Mitgliederarbeit ist es wichtig, diesen einmaligen Dreiklang zu entdecken und zu verinnerlichen.
Die AWO gehört mit ihrer über 90jährigen Geschichte zu den ältesten Wohlfahrtsverbänden in Deutschland. Sie wurde am 13. Dezember 1919 von Marie Juchacz und weiteren Sozialdemokratinnen gegründet. Unter den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege ist sie auf Grund ihrer Geschichte und ihres gesellschaftspolitischen Selbstverständnisses ein Wohlfahrtsverband mit besonderer Prägung. In ihr haben sich Frauen, Männer und junge Menschen als Mitglieder, Förderer und ehren- sowie hauptamtlich Tätige zusammengefunden, um bei der Bewältigung sozialer Probleme und Aufgaben mitzuwirken.
Gründung am 13. Dezember 1919
Das Deutsche Reich ist nach dem 1. Weltkrieg wirtschaftlich ruiniert und politisch instabil. Millionen Menschen sind in Not und hungern. Die Kriegsversehrten, die Opfer des Krieges, die Witwen, die Waisenkinder stehen weitgehend ohne soziale Hilfen da. Eine bisher nicht gekannte Massenverelendung in Deutschland fordert die Selbsthilfe und die praktische Solidarität vieler freiwilliger Helfer/innen geradezu heraus. Der Gedanke liegt nahe, aus den verschiedenen Organisationen der Arbeiterbewegung eine sozialdemokratische Wohlfahrtsorganisation zu bilden.
Doch es ist nicht nur die aktuelle Not der Menschen, die zur Idee einer „Arbeiterwohlfahrt“ führt. Das politische Ziel sollte sein, die willfährige und stigmatisierende Armenpflege des alten Kaiserregimes abzulösen und die Idee der Selbsthilfe und Solidarität in eine moderne Wohlfahrtspflege hinein zutragen. Arbeiter/innen sollten nicht länger nur Objekt der Armenpflege sein.
Die Sozialdemokratin Marie Juchacz,
- Frauensekretärin beim Parteivorstand der SPD,
- Vorkämpferin für das Frauenwahlrecht in Deutschland,
- Mitglied der Weimarer Nationalversammlung,
- erste parlamentarische Rednerin in diesem ersten frei gewählten deutschen Parlament,
rief am 13. Dezember 1919 den „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt“ in der SPD ins Leben.
Friedrich Ebert, der erste deutsche Reichspräsident, gab dem jungen Wohlfahrtsverband das Motto mit auf den Weg: „Arbeiterwohlfahrt ist die Selbsthilfe der Arbeiterschaft“. So wurde neben der „bürgerlichen Wohltätigkeit“ ein sozialdemokratischer Wohlfahrtsverband aufgebaut.
Die Arbeiterwohlfahrt ist ein Element der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Demokratisierung der Gesellschaft und der Verwaltungsstrukturen gehörte mit zu den Zielen der AWO. Um dieses Ziel auch durch ein demokratisches Berufsverständnis innerhalb der Fürsorger/innen und Wohlfahrtspfleger/innen zu erreichen, gründete der Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt 1928 seine erste Wohlfahrtsschule. Seit ihrer Gründung ist die AWO daher auch eine politische Interessengemeinschaft, deren Mitglieder für soziale Gerechtigkeit und sozialen Fortschritt eintreten. Aber die AWO war deshalb niemals eine ausschließlich der Arbeiterschaft dienende Gemeinschaft.
"Der Gedanke der Solidarität, der alle Zweige der Arbeiterbewegung so wundervoll belebt, ist auch die Triebfeder unseres gemeinsamen Handelns zum Wohle hilfsbedürftiger Menschen."
Marie Juchacz
Die Not der 20er Jahre - das Spiegelbild der „Goldenen Zwanziger“
In den Notzeiten der 20er Jahre entstand eine Vielzahl von Diensten und Einrichtungen der AWO: Nähstuben, Mittagstische, Werkstätten, Beratungsstellen. Viele sozialdemokratische Frauen und Männer wurden für einen sozialen Beruf ausgebildet. Ziel der AWO war es, soziale Not zu lindern, ihr vorzubeugen, Wohlfahrtsleistungen zu verbessern und moderne sozialpädagogische Methoden anzuwenden. Die diskriminierende öffentliche „Armenpflege“ sollte schrittweise durch eine moderne Fürsorgegesetzgebung überwunden werden.
Meilensteine dieses Weges waren das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 und die Fürsorgepflichtverordnung von 1924.
Die AWO forderte soziale Rechtsansprüche ein. Ihre Mitglieder hatten die verheerenden Notstände als Betroffene selbst zu bewältigen. Vorrangig galt es deshalb, der Massenverelendung mit praktischer Selbsthilfe zu begegnen.
Seit 1925 wurde von der AWO eine eigene Lotterie veranstaltet und Arbeiter-Wohlfahrtsmarken verkauft, um die entstandenen und entstehenden sozialen Dienste zu finanzieren.
1926 wurde die AWO als Reichsspitzenverband der freien Wohlfahrtspflege anerkannt.
Mit Modelleinrichtungen wie dem Immenhof (1927) und eigener Wohlfahrtsschule (1928) treibt die AWO die Modernisierung und Professionalisierung der noch als Fürsorge bezeichneten sozialen Arbeit voran. Nicht nur Betreuung der Menschen, sondern Befähigung und Förderung sozialen Engagements werden als Aufgabe verstanden. Zur Ausbildung in der AWO gehörten daher auch Vermittlung über ökonomische und politische Zusammenhänge.
Im Oktober 1929 wurde an der New Yorker Börse die erste Weltwirtschaftskrise ausgelöst, mit spürbaren Folgen auch in Deutschland. Über 20 Millionen Menschen in Deutschland waren auf Hilfen der Wohlfahrtspflege angewiesen. 5,7 Millionen Arbeitslose standen vor den Schaltern der Arbeitsämter. In den AWO-Volksküchen wurden Hungernde versorgt, Lebensmittel- und Kleidersammlungen durchgeführt. Politisch konnte sich die Weimarer Demokratie nicht stabilisieren und die sozialen Hilfstätigkeiten der AWO blieben unentbehrlich.
1931 waren 135.000 ehrenamtliche Helfer/innen der AWO in der Kindererholung und im Kinderschutz, in der Altenbetreuung und Jugendhilfe, in Notstandsküchen und Werkstätten für Behinderte und Erwerbslose sowie in Selbsthilfenähstuben tätig.
Die AWO wurde zur Helferorganisation für alle sozial bedürftigen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Konfession.
Verbot - Enteignung - Verfolgung
Am 30. Januar 1933 kam Adolf Hitler an die Macht. Nur wenige Wochen später wurde die AWO von den Nationalsozialisten verboten und zwangsweise aufgelöst. Am 15. Juli 1933 erscheint die Ausgabe der Zeitschrift „Arbeiterwohlfahrt“ mit dem Hakenkreuz. Der Beauftragte der Deutschen Arbeitsfront gibt ein Rundschreiben mit Anweisungen für die Umorganisation der AWO heraus. Darin hieß es, dass die Arbeiterwohlfahrt „so auszubauen ist, dass sie später als Vorbild dient für alle Wohlfahrtseinrichtungen“.
Doch dem Versuch, die Arbeiterwohlfahrt in die nationalsozialistische Volkswohlfahrt zu überführen, entzogen sich allerorten die Mitglieder, Helfer/innen und die Funktionäre der Organisation. Vermögen, Heime und Einrichtungen wurden daher für die nationalsozialistische Volkswohlfahrt beschlagnahmt. Führende Frauen und Männer der AWO wurden verfolgt. Solange es die Mittel zuließen, wurde die Hilfe für Notleidende und Verfolgte des Naziregimes in der Illegalität fortgesetzt. Marie Juchacz und viele andere mussten Deutschland verlassen, um einer Verfolgung zu entgehen. In New York gründete Marie Juchacz die Arbeiterwohlfahrt USA, um Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus zu leisten. Sie sorgte dafür, dass die Arbeiterwohlfahrt in die CARE-Paketaktion der Amerikaner nach Kriegsende einbezogen wurde.
Neubeginn und Wiederaufbau
Mit dem Ende des Krieges 1945, dem Zusammenbruch und der Teilung des Deutschen Reiches, begann der Wiederaufbau im von den Siegermächten besetzten Deutschland; unmittelbar nach Kriegsende auch der Neubeginn und Wiederaufbau der AWO. Sie wurde 1946 in Hannover als parteipolitisch und konfessionell unabhängige und selbständige Organisation wieder ins Leben gerufen.
In der damaligen sowjetischen Besatzungszone wurde die AWO nicht mehr zugelassen. In Berlin besaß sie aufgrund des Viermächte-Status bis 1961 auch für den Ostteil der Stadt eine offizielle Zulassung, durfte dort aber nicht tätig werden. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 hatte die AWO dann auch in Ost-Berlin keine Zulassung mehr.
Verfolgung, Verbot, Krieg und Verwüstung hatten die Ideen der AWO nicht zerstören können. Mutig nahmen Ortsvereine der Arbeiterwohlfahrt in den westlichen Besatzungszonen wieder ihre Arbeit auf. AWO-Helfer/innen kümmerten sich um Evakuierte und Flüchtlinge, Heimkehrer, Alte und Einsame, um junge Menschen, die Heimat und Eltern verloren hatten.
Kinder- und Jugenderholungsmaßnahmen wurden wieder angeboten, nach alter Tradition wurden Nähstuben, aber auch Einrichtungen der Hauswirtschaft und Mütterbildung eröffnet.
1949 gibt es in den drei westlichen Besatzungszonen und Berlin bereits wieder 50.000 ehrenamtliche Helfer/innen und 300.000 Freunde und Mitglieder der AWO. 1949 kehrte Marie Juchacz, gezeichnet von den Jahren der Emigration, aus den USA zurück und wurde Ehrenvorsitzende der AWO.
Organisatorisch ging die AWO neue Wege. Ohne die Nähe zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zu verlieren, gründete und organisierte sie sich als selbständiger Verband, der sich 1947 auf der Reichskonferenz in Kassel neue Richtlinien gab.
1953 erklärte Lotte Lemke, damalige stellv. AWO-Vorsitzende, auf der Berliner AWO-Reichskonferenz: „Heute ist aus der Arbeiterwohlfahrt der Weimarer Zeit eine Wohlfahrtsorganisation geworden, deren Aktionsradius weit über den Kreis der zur Arbeiterschaft rechnenden Bevölkerung hinausgreift“.
In diesen Jahren wurden Kindergärten und Horte neu eingerichtet, Volksküchen gaben Mahlzeiten an Kinder, Alte und Kranke aus, Kriegsgefangene und ihre Angehörigen wurden betreut und mit Lebensmitteln versorgt, eine Schwesternschule wurde eröffnet und eine AWO-Schwesternschaft gegründet. In Karlsruhe wurde das „Seminar für Sozialberufe“ als Ausbildungsstätte eröffnet. Die AWO wurde tätig auf allen Feldern der sozialen Arbeit.
1959 - 1989 Die AWO entwickelt sich.
1959 hatte die AWO bundesweit 300.000 Mitglieder, 5.000 Ortsvereine, 353 Heime, 250 Kindergärten, 4.000 hauptberufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und über 70.000 Helferinnen und Helfer. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen und Rechtsansprüche stiegen diese Zahlen.
1962 stellte die AWO den ersten "Sozialberater für türkische Mitbürger" ein und legte damit den Grundstein für die interkulturelle Öffnung.
1978 wurde das Bundesjugendwerk der AWO gegründet.
Wiedervereinigung nach 57 Jahren
Am 9. November 1989 fällt die Mauer in Berlin. Am 3. Oktober 1990 ist Deutschland wiedervereinigt. Die innenpolitisch dramatisch umkämpfte Entspannungs- und Ostpolitik von Willy Brandt, Egon Bahr, Helmut Schmidt und Herbert Wehner, der politische Reformwille eines Michail Gorbatschow legten den Grundstein für die neue deutsche Geschichte nach 1945 und 1989.
Durch West-/Ostpartnerschaften organisiert beginnt auch die AWO in den fünf neuen Bundesländern mit einem dynamischen Aufbauprozess. Ein Jahr nach dem Fall der Mauer schließen sich die Landes- und Bezirksverbände der AWO in ganz Deutschland auf einem Bundestreffen in Berlin am 10. November 1990 zusammen.
Nach dem Verbot der Arbeiterwohlfahrt 1933 und der gewaltsamen Teilung Deutschlands nach 1945 erklären die Landes- und Bezirksverbände in den neuen Bundesländern ihre Mitgliedschaft beim Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt. Damit findet zusammen, was vor 57 Jahren gewaltsam getrennt wurde.
Die AWO ist heute flächendeckend in allen Bundesländern tätig.
Erfahrung für die Zukunft
Mit den rasanten Veränderungen in der Berufs- und Arbeitswelt und dem Fortschritt der Technologie änderten sich auch die Aufgaben der AWO.
Der soziale Rechtsstaat, wie ihn die AWO in ihren Anfängen und ihrem Werden angestrebt hat, ist in großen Teilen Wirklichkeit geworden. Die AWO lässt jedoch nicht nach in ihren Forderungen nach Reformen und Veränderungen in der Sozialpolitik, in der Gesundheitspolitik, in der Familienpolitik und in der allgemeinen Fürsorge um den Menschen und seine soziale Sicherung. Stets hat sie ihre Forderungen den Parlamenten und Regierungen zugetragen. Daraus sind Gesetze entstanden, die Rechtsansprüche auf soziale Hilfen garantieren. Als ein Beispiel unter vielen gilt dafür die sozialrechtliche Sicherung des Pflegefallrisikos.
Die AWO hat neue soziale Aufgaben übernommen, die im Wandel der Gesellschaft ihren Ursprung haben. Dazu gehören die Betreuung der zahlreichen ausländischen Arbeitnehmer/innen seit Beginn der 60er, die stationäre und ambulante Altenhilfe, die frühkindliche Bildung in Krippen, Kindergärten und Horten, die Pionierarbeit im Sprachheilbereich, die Entwicklung moderner Wohnkonzepte für ältere Mitbürger, die Suchtberatung und die sozialpsychologische Betreuung. Grundsatz der sozialen Arbeit der AWO ist auch weiterhin die Hilfe zur Selbsthilfe.
Banken- und Finanzkrisen führen immer wieder zu Wirtschaftskrisen. Hinter niedrigen Arbeitslosenzahlen verbergen sich vielfach geringbezahlte und prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Zu viele Menschen sind z.T. über Jahre ohne regelmäßige Erwerbsarbeit. Während der Reichtum weniger in der Gesellschaft rasant angewachsen ist, hat sich ein Sockel an Armut verfestigt. Kinder und Alter stellen ein Armutsrisiko dar. Haushaltskrisen der öffentlichen Hand führten nicht nur zu Sparmaßnahmen als Kürzung im sozialen Bereich, sondern auch zur Ökonomisierung und Preiswettbewerb in der Sozialen Arbeit mit weitreichenden Konsequenzen für die ehrenamtliche Steuerung.
In allen Bereichen legt die AWO Wert darauf, soziale Aufgaben der Gegenwart mit dem Blick auf die Zukunft zu lösen - mit der Erfahrung für die Zukunft!